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Münster – Molla Demirel, 1948 in Akcadag in der Türkei geboren, lebt seit 1972 in Deutschland. Der Medienpädagoge und Sozialarbeiter, bekannt als Geschäftsführer von Kaktus e.V. in Münster, sorgt sich um die politische Lage in seiner alten Heimat.

Molla Demirel verfolgt die politische Entwicklung nach dem Putsch in seinem Heimatland, der Türkei, mit kritischer Aufmerksamkeit, Unsere Mitarbeiterin Jennifer Best sprach mit dem Sozialpädagogen, der als Geschäftsführer von Kaktus e.V. in Münster tätig ist.

Wie schätzen Sie die Situation ein?

Demirel: Es ist nicht leicht, sich ein Bild über die aktuellen Geschehnisse zu machen. Niemand möchte so etwas erleben, erst recht nicht in seinem Heimatland, dort wo man geboren und aufgewachsen ist. Die Reaktionen des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan auf den gescheiterten Putschversuch geben nicht nur Türkischstämmigen zu denken.

Glauben Sie, der Putsch kam Erdogan gelegen?

Demirel: Immerhin kann er ihn nutzen, um seine Machtposition zu stärken und sich Gegnern seiner Politik zu entledigen. Wie kommt es sonst, dass auf einmal über 6000 Offiziere, Generäle, Soldaten, Richter und Anwälte ihres Amtes enthoben werden und Erdoğan dies selbst als „Säuberung“ des Landes bezeichnet?

Was halten Sie von der Vermutung, der Putsch sei vom Staatspräsidenten selbst inszeniert worden?

Demirel: Es ist zumindest fraglich, ob ein Putschversuch tatsächlich jemals am helllichten Tage stattfindet, ohne ausreichend Vorbereitung und die Vorteile des Überraschungsmoments. Fragen wir uns wie es sein kann, dass das so mächtige Militär in der Türkei angeblich seine Macht demonstrieren will, sie aber nicht dazu nutzt, die Medien auszuschalten?

Welche Rolle spielt Fethulla Gülen in der Diskussion um den Putsch?

Demirel: Eine wichtige Rolle! Es ist fraglich, ob es tatsächlich stimmen kann, dass der Putsch von Sympathisanten Gülens initiiert wurde. Treffen die Vorwürfe eines islamischen Fundamentalismus nicht auch auf Erdoğan selbst zu?

Was treibt Deutschtürken auch hierzulande auf die Straße?

Demirel: Die politische Lage in der Türkei ist vielen Menschen in Deutschland nicht egal und viele Deutschtürken fühlen sich mit der Türkei eng verbunden, nicht zuletzt weil sie dort Verwandte und Freunde haben, um die sie sich sorgen. Gewalttaten, ungerechtfertigte Entlassungen und Ausreiseverbote – das alles treibt einen Keil zwischen die Menschen und führt zu einer noch tieferen Spaltung als es sie ohnehin schon in der türkischen Gesellschaft gibt.

Was bedeutet der Putschversuch für die Demokratie im Land?

Demirel: Fest steht, dass sich die Türkei unter der Regierung Erdoğans immer weiter von demokratischen Werten weg und hin zu einer islamischen Autokratie, ähnlich einem Sultanat, bewegt. Es bleibt die Hoffnung, dass die Demokratie in der Türkei noch nicht verloren ist. Aber wenn nun schon die Rede davon ist, die Todesstrafe wieder einzuführen, schwindet diese Hoffnung von Tag zu Tag mehr.

Westfälische Nachrichten, Fr., 29.07.2016

 

Interview aus dem interkulturellen Magazin vom 01.08.2016