Was spricht gegen Bildung?

Das Thema „Türkische Schulen und Bildungseinrichtungen in Deutschland“ sorgt für viel Unruhe. Aber warum eigentlich? Mit dieser Frage hat sich Kaktus Münster e.V. intensiv befasst und befragte den Bildungsexperten und Sozialpädagogen Molla Demirel.

Kaktus: Türkische Schulen in Deutschland – ein heftig diskutiertes Thema seit geraumer Zeit. Herr Demirel, wie ist diese Diskussion überhaupt entstanden?

M. Demirel: Seit einigen Wochen oder Monaten  wird in den deutschen Medien und zwischen deutschen Politikern fast täglich die Aussage des türkischen Regierungschefs Recep T. Erdogan über türkische Gymnasien thematisiert. Erdogan äußerte: „ Es gibt in der Türkei deutsche Gymnasien und weiterführende Schulen. In Anlehnung daran ist es für uns erstrebenswert, türkische Gymnasien in Deutschland einzurichten.“ Die Aussage lieferte den Aufhänger für eine stürmische Diskussion, die zurzeit stark durch Deutschland weht. Jedes Medienorgan beruft sich auf verschiedene Umfragen und gibt unterschiedliche Zahlen wieder.
Die verschiedenen Medienabschnitte beharren deutlich darauf, dass 70 % aller deutschen Bürger/innen gegen eine türkische – deutsche Bildung vermittelnde Schuleinrichtung stimmen.

Kaktus: Können Sie uns vielleicht diese Statistiken näher erläutern? Wie sollte man diese Umfrageergebnisse betrachten?

M. Demirel: Fraglich ist bei diesen Umfragen, mit wem, wo und mit wie vielen Personen sie durchgeführt wurden. Ich lebe seit 1972 in Deutschland. Ich kenne Deutschland und die deutsche Bevölkerung sehr gut. Die Einwohner sind meiner Meinung nach emotionale Menschen, die sich vor allem sehr gerne auf Tatsachen berufen, worauf sich ihr absoluter Konservatismus zurückführen lässt. Die Freundschaft zwischen Deutschland und der Türkei lässt sich bis zum 9. Jahrhundert zurückführen. Dies ist historisch erwiesen. Die gemeinsame Geschichte, die immer fortwährenden freundschaftlichen Bemühungen füreinander und die Loyalität zwischen beiden Ländern hat weltweit politisches Ansehen erlangt. Besonders während der industriellen Revolution in Frankreich, haben die gemeinschaftlichen politischen Bestrebungen von  Deutschland und der Türkei die politische Zusammenarbeit mit den Nah-Ost- und Balkanländern angeregt und somit eine internationale gemeinsame Handlungsebene geschaffen. Deutschland und die Türkei konnten gemeinsam Frankreichs, Großbritanniens und Russlands Außenpolitik die Stirn bieten und eine neue Spitze formieren.
Nachdem Krieg benötigte Deutschland für seinen Wiederaufbau Arbeiter und Experten aus dem Ausland. Viele Arbeitskräfte kamen aus der Türkei, die bis zu 80 % aus qualifizierten Experten bestanden. Die folgenden Einwanderungszahlen übersteigen die Vorstellungskraft, denn es wanderten nicht zu Letzt viele Menschen aus dem Ausland zwecks Familienzusammenführung nach Deutschland ein. Im Zuge der sich schnell erweiternden Tourismusbranche genossen Spanien und die Türkei die große Beliebtheit der Deutschen als Urlaubsorte. Die Türkei schaffte es hierbei in den letzten 15 Jahren auf Platz eins als Haupturlaubsziel. Durchschnittlich reisen jährlich bis zu 5 Millionen deutsche Urlauber in die Türkei. Auf der Liste der ausländischen Hauptinvestoren in der Türkei belegen die Deutschen den ersten Platz. Seit 1960 steigt jährlich die Zahl der deutschen Einwanderer in die Türkei. Ebenso steigt die Zahl türkischer Einwanderer in Deutschland. Deutschland braucht mehr Nachwuchs. Heute leben in Deutschland ca. 3 Millionen türkische Einwanderer und türkisch-stämmige Bürger. Aus Ländern wie Aserbeidschan, Turkmenistan, Kirgistan, Tatarstan, Griechenland, ehemalige jugoslawische Länder, Bulgarien, Irak, Iran, Syrien und Georgien sind ebenfalls zahlreiche türkischsprechende und türkischstämmige Menschen eingewandert und erhöhen ungetrübt die Einwanderungszahlen türkischstämmiger Menschen in Deutschland auf 5 Millionen.

Warum erzähle ich diese Geschichte?
Diese Türkische Stämigen Einwanderer haben in ihrem Umfeld mindestens zwei deutsche Freunde. Darüber hinaus darf man die mehr als 1000 jährige loyale und innige Freundschaft zwischen dem deutschen und türkischen Volk nicht geringschätzen. Beide Länder versuchen sich durch die gemeinsam gewonnen Vorteile gegenüber den Industriemächten wie den Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritannien, Italien und Japan zu behaupten und ihre eigene Wirtschaft zu beschützen. Deutschland besitzt nicht die notwendigen Rohstoffe. Deutschlands Industrie ist somit auf Rohstoffe aus anderen Ländern angewiesen, die sie für ihre Produktion benötigen, um so wieder ihre Produkte auf dem internationalen Markt absetzen zu können. Bis zum heutigen Tage hat Deutschland die meisten seiner Rohstoffe aus dem nahen Osten bezogen, hauptsächlich aus reichen Gesellschaften wie arabischen Ländern, die ebenfalls türkische Wurzeln haben. Zu den arabischen Ländern können voran Irak, Saudi-Arabien, Syrien, Libanon, Jemen und zu den Turkstaaten können Länder wie Aserbeidschan, Turkmenistan, Kirgistan und Tatarstan gezählt werden. Entsprechend der Beziehungen der Türkischen Republik, sei es aus gemeinsamen religiösen oder ethnischen und historischen Gemeinsamkeiten, erweitert sich die Liste der Rohstofflieferanten und Wirtschaftspartner durch  Iran, Afghanistan, Pakistan und Ägypten.
Außerdem bilden diese Länder einen noch größeren Absatzmarkt für die Weltprodukte, vor allem auch der Produkte Deutschlands, die in diesen Ländern qualitativ sehr geschätzt werden. Gerade aus diesem Grunde ist Deutschland auf die Türkei angewiesen, um den Zugang zum mit den Türken bluts- kultur- oder sprachverwandten breiten Absatzmarkt im Nahen Osten nicht zu verlieren und um mit den USA, Russland, Großbritannien und Japan konkurrieren zu können.

Ebenso hat die Türkei viele Verwandtschaften mit millionen von Menschen in den Balkanstaaten und dadurch auch die erforderlichen Kontakte und Beziehungen. Kurzgesagt könnte Deutschland ohne die Türkei keine Handelsbeziehungen zu den Balkanländern, Nah-Ost-Ländern und vorderasiatischen Ländern aufrechterhalten in starker Konkurrenz zu den USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und Japan. Dies wissen deutsche Politiker und deutsche Medien genauso gut wie die deutsche Bevölkerung. Daher scheinen die Statistiken deutscher Medien nicht glaubwürdig, dass der Großteil der Deutschen gegen türkische Schulen in Deutschland sei.

Sprache ist der Hauptbestandteil der Kommunikation, sodass vor allem eine deutsch-türkische Bildung die Freundschaft und den Nutzen für beide Länder noch mehr stärken wird. Die Fachleute, die sich vor allem aus solch einem Bildungsnutzen herausbilden, erhalten vor allem in den Balkan- und Nah-Ost-Ländern und in Vorderasien hervorragende Kontakte und Beziehungen.

Kaktus: Welche Gründe sprechen für türkische Schulen in unserer Gesellschaft in Deutschland?

M. Demirel: Grund hierfür ist, dass gerade diese Bildungsgrundlage das Ausland vor allem in Punkto internationale Kompetenzen überzeugen wird und die Bereitschaft für wirtschaftliche Zusammenarbeit erheblich steigern wird. Außerdem darf der Einfluss auf die Supermacht China mit 1,5 Milliarden Einwohnern auf dem Weltwirtschaftsmarkt nicht unterschätzt werden. Zusammen mit der Mongolei, beinhaltet China fast 100 Millionen turkstämmige Einwohner. All diese Zusammenhänge dürfen für die Zukunft sowohl Deutschlands als auch die der Türkei nicht außer Acht gelassen werden. Dessen müsste sich jeder Mensch bewusst sein, der die geschichtlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Weltereignisse einigermaßen mit verfolgt. Vor allem würde auch ein Großteil der deutschen Bevölkerung, der sich des Türkischen bemächtigt, erheblich mehr auf den internationalen Märkten einwirken können und vorteilhafte Beziehungen aufbauen können.
Das Beherrschen der türkischen und deutschen Sprache wird eine neue Generation von Fachleuten hervorbringen, die beiden Ländern auch für die nächsten hundert Jahre noch gute Beziehungen zu den Nah-Ost- Ost Asien und Balkanländern einbringen. Deutschland und die Türkei könnten somit den Ton in der Weltwirtschaft und Weltpolitik führend angeben. Darauf abzuzielen ist für Deutschland wichtig, damit sich das Land auf die industriellen Entwicklungen auch weiterhin anpassen und mit anderen Ländern mithalten kann.

Kaktus: Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe für eine Ablehnung türkischer Schulen in Deutschland?

M. Demirel: Viele Menschen sind sich nicht dessen bewusst, dass sie durch die Ablehnung deutscher und türkischer Schulen in Deutschland und der Türkei und durch ihre negative Propaganda, beiden Ländern Unrecht tun und dem Fortschritt im Wege stehen. Dieses Verhalten schadet beiden Staaten. Kein vernünftiger Mensch spricht sich gegen die Eröffnung von Bildungseinrichtungen und die Forderung nach Schließung von Schulen ist logisch einfach nicht nachvollziehbar. Wenn vor allem in Deutschland die Rede sei, daß die Türken unter den Ausländergruppen in Deutschland die größten Integrationsprobleme hätten, jeder fünfte Türke nur mangelhaft oder gar kein Deutsch sprechen würde und nur jeder zweite Türke Kontakt zur Deutschen Bevölkerung hätte, dann steht eine sehr wichtige Frage noch offen: Wie groß ist denn überhaupt die Bereitschaft der deutschen Bevölkerung Freundschaften oder gar Kontakt zu „Ausländergruppen“ und „Nicht-Deutschen“ zu pflegen?
Gerade wie ich bereits erzählt habe, sind vielen Menschen, vor allem aber den deutschen Einheimischen, die bisherigen freundschaftlichen und auch wirtschaftlichen Beziehungen garnicht bekannt. Unwissenheit schafft ja bekanntlich auch Furcht und das betrifft leider auch das Thema türkische Schulen in Deutschland!