In dieser Stadt mit den vielen Fabriken und den kleinen Betrieben konnte man zu jeder Zeit

verschiedenes erleben. Seit die Arbeiter aus der Türkei, Portugal, Spanien, Griechenland,

Jugoslawien und Italien hierher zum Arbeiten kamen, lebten die für den Menschen schwer

verständlichen Beziehungen, Auseinandersetzungen und Lästereien mit immer stärker steigenden

Eingrenzungen weiter. Die Menschen, die früher miteinander stritten, sich nichts zu erzählen

wussten, kein Freundschaftsgefühl kannten und keinen Wert auf Verwandtschaft legten, schoben

nun diese Probleme zur Seite und beschäftigten sich nur noch mit den Verhaltensweisen der

Ausländer. Sie beobachteten jede Kleinigkeit, übertrieben die geringsten Lebensunterschiede

und erfanden daraus Geschichten, die sie sich untereinander weiter erzählten. Die Geschichten

verbreiteten sich so sehr, dass sie manchmal sogar in Tageszeitungen oder Zeitschriften

veröffentlicht wurden, als wären sie wahre Begebenheiten. Manchmal wurden tatsächlich

vorgekommene aber unwichtige Ereignisse übertrieben, in eine Komödie umgewandelte Form in

Radio- und Fernsehsendungen ausgestrahlt. Gab es Leute, die behaupteten, dass die Anzahl

der Deutschen immer geringer würde, nationale Gefühle immer mehr dem Aussterben zuginge,

dass andererseits immer mehr fremde Auswanderer in das Land einströmten. Diese Entwicklung

müsste man unbedingt stoppen. Mit dieser Propaganda beabsichtigten sie ein Wiederbeleben

und Verbreiten deutschen Nationalbewusstseins. Sie organisierten die Bürger gegen Ausländer

und Ausländerfreunde. Aber es gab eine Wirklichkeit, die man nicht leugnen konnte. Seit die

Ausländer hier Fuß fassten, kam eine gewisse Lebendigkeit auf. Früher war die Stadt wie

unbewohnt, als sei sie eine Grabstätte voller Bauten. Je mehr fremde Arbeiter kamen, desto

größer wurde die Anzahl der Gaststätten, Restaurants und Läden, die Nahrungsmittel und

Kleidung verkauften. Viele der Einwohner hörten auf zu arbeiten, eröffneten ein eigenes Geschäft

und machten sich somit selbständig. Vor dieser Zeit konnte man in den schönen grünen

Parkanlagen und in den Kinderspielplätzen höchstens einige ältere Menschen sehen, die ihre

Hunde zum Auslaufen brachten. Auf den Höfen traf man selten Kinder an. Auch diese Orte

wurden belebter, seit die Einwanderer hier lebten. Schwarzhaarige, dunkelhäutige Kinder und

blonde, blauäugige Kinder spielten und balgten miteinander herum. Die Spielplätze erhielten mehr

Leben, mehr Farbe. Der Wirt Erich beobachtete diese Veränderungen in der Stadt und hörte

aufmerksam dem zu, was gegen die Ausländer gesagt wurde. Anfangs kamen viele Ausländer in

sein Gasthaus, erzählten sich ihre Sorgen und tranken Bier. Sie waren sehr gute Kunden, die nie

etwas gegen die Preise hatten, und jedem Freund, der zu ihrem Tisch kam, zum Tee, Kaffee,

Bier oder zum Essen einluden. Der Wirt Erich verdiente viel Geld durch sie. Zuerst vergrößerte

er sein Gasthaus, dann eröffnete er ein Zweites. Obendrein konnte er sich ein Haus mit Garten

kaufen. In dieser anfänglichen Zeit schimpfte er über die Ausländerfeinde. Aber gegenüber den

deutschen Kunden verhielt er sich freundlicher und höflicher, als gegenüber den ausländischen

Kunden. Er kassierte von ihnen sogar höhere Preise für Getränke und Speisen, was er natürlich

als sein Recht betrachtete. Die ersten Ausländer, die man hierher brachte, wurden in Frauen- oder

Männerheimen untergebracht. Sie waren nicht nur für die Arbeitgeber billige Arbeitskraft. Auch

der ansässige Bürger konnte gut  an ihnen verdienen. Besonders für die arbeitslosen, ansässigen

Lumpen die ihre Zeit in Kneipen vertrödelten, bedeuteten die Ausländer ein Glück. So konnten

Diebe, Rauschgifthändler, Zuhälter, Arbeitsvermittler und Immobilienmakler auf Kosten der

Ausländer ungeheure Summen verdienen. Viele Ausländer verloren ihr Verdientes an diese Leute.

Oder sie ließen ihr Schicksal in die Hände von Personen, die aus ihrer Heimat kommen und die

Sprache ein wenig beherrschten. Sie zahlten ihnen sozusagen Erpressungssummen. Onkel Ali

wurde zum ersten Mal Augenzeuge von solcher Würdelosigkeit, Dreiheit, von solchen offenen

Betrügereien und offenem Frauenhandel. Er war über diese Verhältnisse sehr verwundert und

schämte sich im Namen der Menschheit. Jeden Tag wurde er Zeuge von Ereignissen, die er

einfach nicht begreifen konnte. Von all diesen negativen Ereignissen fühlte er sich betroffen,

verspürte tiefe Traurigkeit, konnte nächtelang nicht schlafen und verfiel -wenn auch nicht

dauerhaft- in Pessimismus. Doch mit der Zeit gewöhnte er sich an die Lebensumstände. Als er

eines Morgens aufwachte, sah er vor dem Fenster einen Spatz, der sich in der Ecke der

Fensterbank eingebrochen, unter dem Sonnenstrahl zu erwärmen versuchte. Die Art, wie er

umherblickte, erinnerte Onkel Ali an ein ängstliches und trauriges Kind, das seine Eltern verloren

hat. Dieser Gedanke und die vom Windstoß auf der Erde hinwegkriechenden vergilbten Blätter,

stimmten ihn traurig. Mit tiefem Schmerz schrieb ihm ein Leben vor, das eines von dieser beiden

glich; er konnte jedoch nicht entscheiden, ob es das Leben der Blätter oder das Leben vom

Spatz ist.Wenn  Onkel Ali  an die einsamen Jahre im Zimmer des Arbeiterheimes dachte, wurde

seine Unbehaglichkeit größer. Nach der Arbeit fing er an zu grübeln. Zuerst spürte er

Kopfschmerzen, dann gingen die unerträglichen Schmerzen über zu seinem ganzen Körper. Oft

sagte er sich „Dieses Leben geht so nicht weiter. Meine Frau und meine Tochter sind in Sorge,

und ich leben in Sehnsucht und Traurigkeit“.An Wochenenden ging er zu Erichs Gaststätte, setzte

sich in eine ruhige Ecke und trank seinen Kaffee. Er beobachtete dort die Menschen, die sich

betranken, die sich gegenseitig wegen belanglose Dinge verletzten, die sich an ältere Frauen oder

an jüngere Mädchen heranmachten und sie küßten, und die nicht mal einen Moment lang darüber

nachdachten, was sie taten, weil sie sich in einer schlechten seelischen Verfassung befanden. Er

bemitleidete diese Menschen und dachte: „In meinem Alter lebe ich hier allein in einem Zimmer.

Wenn ich einmal schwer krank werde, gibt es niemanden, der mir helfen würde. Gibt es wohl

Leute, denen ICH leid tue? „Er war sehr verärgert über sein Leben. Als er vor Jahren hierher

kam, hatte er Schwierigkeiten damit, sich die Namen der sauberen Straßen, der Städte mit den

künstlerischen Gebäuden und den der Menschen zu merken. Aber die für ihn neuen Orte, die

Sprache, die Arbeit in der Fabrik und den Verdienst empfand er als aufregend. Gleichzeitig hatte

er aber auch angstßliche Gefühle. Deshalb versuchte er immer aus den Verhaltensweisen,

Gesichtsausdrücken und Tonfällen der Leute, die mit ihm sprachen und arbeiteten, herauszufinden;

schenkte ihnen besondere Aufmerksamkeit. Wenn er von der Arbeit kam, öffnete er das Fenster

seines Zimmers, welches er mit einer Zelle eines Gefängnisses verglich, lüftete den Raum. Bei

gutem Wetter lag er auf der Couch vor dem Fenster und lauschte den Schritten und Stimmen der

Vorbeigehenden. Er versuchte die gesprochenen Sprachen voneinander zu unterscheiden. Wenn

er merkte, dass eine andere Sprache als die deutsche gesprochen wurde, murmelte er:

„Das sind auch solche, wie wir, die in die Fremde geraten sind.“ Aber wenn Deutsche sprachen,

merkte er sich immer einige Wörter aus den Sätzen und wiederholte diese zwanzig bis dreißig mal

vor sich hin. Er glaubte, dass er diese Sprache so lernen und sich mühelos mit den Deutschen auf

der Straße oder auf dem Markt unterhalten könnte. Er hoffte auch, dass er so wie die deutschen

Bürger akzeptiert und als ein Freund angesehen würde. Mit der Zeit würden ihn  seine Nachbarn

besuchen, und sich bei einer Tasse Kaffee ihm unterhalten.    Das Tick-Tack der Uhr unterbrach

zwischendurch seine hoffnungsvollen Erwartungen und seine Träume und er fuhr dabei immer

zusammen. Manchmal fragte er sich, warum er nicht schon vor seiner Einreise Deutsch gelernt

hatte. Man hatte eben keine Möglichkeiten. Und hatten die Länder, die Arbeite wegschickten,

und die Länder, die Arbeiter aufnahmen, auch keine Möglichkeiten? Oder ist es gerade zu ihren

Nutzen, dass die Arbeiter sich nicht artikulieren können? Diese Arbeitskollegen waren auch

interessant. Wenn sie Schwierigkeiten hatten, wußten sie sich von Ausländern helfen zu lassen.

Aber wenn man sich mit ihnen anfreunden oder an ihrem sozialen Leben  teilhaben wollte, zeigten

sie sich abge- neigt. Nach deren Meinung waren Ausländer Menschen, die sich in diesem Land

Geld anhäufen und weggehen wollen. Und ihre Aufgabe war es, die schmutzige und schwierige

Arbeit, die die Deutschen nicht wollen, zu übernehmen. Dabei wurden sie, als sie kamen, mit

Festen empfangen. Die Kantinen der Fabriken wurden geschmückt, die Tische besonders

geschmackvoll gedeckt. Damals dachte er, dass hier das Leben der Arbeiter ausgezeichnet sein

muß. „Woher nur diese abweisende Haltung, ja sogar die Ausländerfeindlichkeit?“

Auf diese Frage fand er keine Antwort. Trotzdem glaubte er daran, dass jeder Einwanderer, der

die deutsche Sprache beherrscht, eine positive Atmosphäre herstellen und gute Charaktere

gewinnen kann. Menschen, die keinen Unterschied zwischen Sprache und Nation machten, die

ein besseres Leben wollten, lernten schließlich mit der Zeit die Sprache des Landes. Sie erkannten

die Ungerechtigkeiten und konnten nun ihre Probleme erzählen. Und sie fingen an, sich gegen die

Ungerechtigkeiten aufzulehnen. Je besser sie die Sprache beherrschten, um so besser wußten sie

mit den voran- denen Gesetzen und offenstehenden Möglichkeiten umzugehen. Die Jugend, die

die Sprache besonders schnell und gut lernte, erwarben mit Hilfe der älteren Arbeiter verschiedene

Berufe. Sie fingen an, eigene Existenzen zu gründen. Damit lernten sie auch die Wirtschafts-

bedingungen des Landes kennen. Eine dieser Personen, die sich selbständig machten, war die

Tochter von Onkel Ali, Senay. Ihr Vater nahm sie nach einigen Jahren Aufenthalt in dieser Stadt zu

sich. Er wollte, dass Senay hier studiert. Und sie ging gern zur Schule. Sie lernte die deutsche

Sprache recht zügig. Sie wollte Wirtschaft studieren. Aber weil sie aus einer ausländischen Schule

kam, wurde sie in die Hauptschule eingeschrieben. Sie bestand darauf, das Gymnasium zu besuchen,

aber die Lehrer sagten ihr, dass ihre Eltern ohnehin in ihre Heimat zurückkehren würden und dass

sie eine Schulausbildung nicht schaffen würde, weil es schwierig sei.

„Wenn deine Eltern einmal zurückkehren, kannst du nicht hierbleiben. Das Studium beansprucht

viel Zeit und man kann nicht vorhersagen, wie lange Ausländer hier noch bleiben können. Für

Ausländer ist hier die Zukunft ungewiß. Außerdem kennen wir eure gesellschaftlichen Normen, du

wirst hier nicht allein leben dürfen. Deshalb solltest du auf kürzestem Wege einen Beruf ergreifen

und die Plätze in den Gymnasien sollten für Deutsche offenstehen, weil sie diejenigen sind, die hier

bleiben. „Senay war sehr traurig über diese Aussagen. Sie versuchte zu erklären, dass ihre Eltern in

der Türkei, die es sich leisten könnten, auf jeden Fall das Studium ermöglichen. Sie bat darum, dass

ihr bei der Einschreibung ins Gymnasium geholfen wird, aber es war vergebens. Dabei hatte sich

Senay etwa in den Kopf gesetzt. Sie mußte ihr Ziel erreichen. Um mit Nuri, den sie liebte,

zusammen sein zu können, mußte ihr alles gelingen, was sie sich vornahm. Nuri war der Nachbars

Sohn aus dem Ort, woher sie kam. Sie mochten sich von Kindheit an. Nuri war ein sehr intelligenter,

spritziger Junge. Und Senay war da nicht anders. Sie spielten zusammen, kletterten auf Bäumen

herum. Am liebsten saßen sie auf den  Ästen des Aprikosenbaums. Und während sie Lieder sangen,

warfen sie sich die Kerne der Aprikosen zu. Im Ort  wurde über sie gelästert, aber daran störten

sie sich nicht. Sie nannten sich nicht beim Namen, sondern nannten sich „Bruder“ und „Schwester“.

Sie waren wie zwei Teile eines Rätsels. Beide gingen zur gleichen Schule, sie gingen in die gleiche

Klasse und teilten auch die Klassenbank. Beide wetteiferten miteinander, um Klassenbester zu

werden. Wegen dem Wettkampf und einigen unterschiedlichen Meinungen, kam es natürlich zu

Streitigkeiten. Aber diese gingen nie so weit, dass ihre Freundschaft darunter litt. Die unterschied-

lichen Denkweisen brachten sie sogar noch stärker zusammen, sie tauschten ihr Wissen untereinander

aus. Nuri war Kurde. Seine Familie lebte in einem kleinen Dorf im Osten, aber wegen einer

Blutrache mußten sie es verlassen. Sie hatten all ihr Hab und Gut zurückgelassen. Aber man sah

ihnen an, dass sie eine ehrbare Familie waren. Nuri war sehr traurig über die jetzigen

Lebensumstände. Vor allem fürchtete er ständig, dass er nicht weiter die Schule besuchen kann.

„Ich möchte gern Arzt  werden. Als Arzt möchte ich im Dorf meines Vaters arbeiten. Dieser

Wunsch ist mir so groß, dass es nicht in Worte fassen kann. Aber ich weiß, dass sich mein

Wunsch nie erfüllen wird. Der Grund ist klar. Meine  Eltern werden mir das Studium nie finanzieren

können. Aber ich kann mich von diesem Traum nicht abhalten. Wenn ich anfange zu lernen,

vergesse ich unsere Armut. Ich werde nur noch vom Wunsch zum Lernen erfüllt. In einer anderen

Stadt studieren …, nur mit welchen finanziellen Mitteln? Es gibt keine Alternative. Verflucht sei diese

Armut! Wenn ich wenigstens das Abitur absolvieren könnte … Vielleicht würde ich später eine

Arbeit finden, nachts arbeiten und tagsüber die Lehrveranstaltungen besuchen. Manchmal denke ich

daran, die Schule schon jetzt aufzugeben und zu arbeiten. Auch wenn ich mein Ziel nicht erreicht

hätte, so könnte ich zumindestens für meine Familie verdienen. Ich könnte Ihnen einigermaßen aus

der Armut verhelfen. Es macht mich sehr traurig, dass mein Vater für das bisschen Geld als

Lastenschlepper so schwer arbeiten muß. Die Schule aufgeben … Wer gibt aber jemanden, der

nicht einmal das Gymnasium beendet hat, Arbeit. Sogar die  Hochschulabsolventen bekommen

keine Arbeit. Ich möchte so schnell wie möglich groß werden, die Schule und Universität hinter mir

bringen und ein guter Arzt sein, den armen Menschen helfen. Aber ich fürchte, das bleibt nur ein

Traum. Manchmal weine ich sogar deswegen. Ich fluche über diejenigen, die verantwortlich sind für

diese Zustände. Dann schäme ich mich selbst über mein eigenes Fluchen…“Wenn Nuri so sprach,

tat es Senay auch sehr weh. „Nein ! Schlag dir das mit dem Arbeiten und die Schule verlassen aus

dem Kopf du mußt weiterhin zur Schule gehen und du mußt das erreichen, was du dir in den Kopf

gesetzt hast. Es wird doch einen Weg geben, um aus der Armut und Alternativlosigkeit

herauszukommen. Und ich möchte Ökonom werden. Ich möchte lernen, wie dieses Kapital in

einzelne Hände gelangt, welche Rolle die Banken beim Umlauf des Geldes spielen. In diesem

Bereich möchte ich ausgebildet sein. Ich persönlich mag das Geld nicht. Ich mag auch keine

Menschen, die sich dem Geld hingezogen fühlen und unbedingt  reich werden wollen. Aber wie

wird als Folge des Geldumlaufs das Kapital monopolisiert? Wie gehen täglich kleine Betriebe zu

grunde? Wie verarmt der Kleinhändler? Das normale Volk gerät in finanzielle Schwierigkeiten.

Gibt es für all dies keine Gegensätze? Falls ja, wie sieht dann die ökonomische Struktur aus? Wie

funktioniert der Kapitalismus? Eben diese Inhalte möchte ich begreifen…“Nachdem sie dies sagte,

strich sie mit den Händen über die Haare, schaute fast flehend und hilfesuchend in die Augen

des jungen Mannes. „Ich muß unbedingt erreichen, was ich möchte. Und du ebenfalls. Du darfst

deine Wünsche nicht aufgeben, deine Hoffnungen nicht verlieren. „Nuri antworte lachend: „Du

sprichst so schön. Es gibt da ein Sprichwort: ‚Im nicht Gestorbenen Seele steckt immer noch

Lebenshoffnung!‘ Genauso ist meine Situation. Deshalb möchte ich meine Hoffnung nicht aufgeben.

Ich lerne mit Lust. Aber ich kann meine Situation auch nicht einfach ignorieren. Liebe Schwester,

für dich sieht die Lage anders aus. Du bewahrst klaren Kopf. Und deine Möglichkeiten sind auch

nicht gering. Dein Vater lebt in Deutschland. Die deutsche Mark steigt täglich weitaus über die

türkische Lire. Mit ein paar hundert Mark, die euch dein Vater schickt, könnt ihr gut leben. Mit

diesem Einkommen kannst du auch in jede Schule (ohne weiteres) gehen. „Der letzte Satz ließ ihre

Lippen zittern. In ihrem Herzen fühlte sie eine plötzliche Leere, dann füllte ein tiefer Schmerz diese

Leere. Sie fand keine Stärke, die sie ihm vermitteln konnte. Sie schaute mit gesenktem Kopf nach

unten. Ein unerklärliches Gefühl und eine ebenso unerklärliche Angst. So liefen sie eine Weile

zusammen.

Als sie die Mittelschule abschlossen, kam Senay`s  Vater aus Deutschland. Ihre Mutter gab ihm

erfolgreiche Zeugnisse ihrer Tochter, dabei konnte sie ihre Tränen nicht zurückhalten. Er merkte,

dass diese Tränen nicht nur eine Freude äußerten. Vielmehr war da ein Gemisch aus Freude und

Angst. In den nächsten Tagen erfuhr er auch schon, dass über seine Tochter gelästert wurde. Er

liebt seine Tochter und hatte Vertrauen zu ihr. Er glaubte daran, dass die Tochter nicht das

geringste tun würde, was die Eltern in Verlegenheit bringen könnte. Aber auch wenn das Gerede

nicht stimmen sollte, so reichten sie bei den gesellschaftlichen Normen dazu aus, die Ehre des

Menschen zu verletzen. Verhaltensweisen, die natürlichsten Rechte der Menschen sind, herzliche zwischenmenschliche Beziehungen, ja sogar Beziehungen zwischen Nachbarn und Verwandte,

wurden entsprechend der bestehenden gesellschaftlichen Kultur für Getratscht mißbraucht.

Wurden nicht dadurch geschmacklose Ereignisse hervorgerufen? Wurden nicht dadurch sogar

Familien zerstört? In den westlichen Ländern, in allen entwickelten Industrieländern sind solche

Verhaltensweisen möglich. Zwei junge Leute können ohne auf Geschlechtsunterschiede achten zu

müssen, ohne weiteres gemeinsam sein. Sie können ihre Freundschaft frei äußern. In diesen Ländern

wächst das Selbstbewußtsein schon in der Kindheit. Man lernt Eigenständigkeit und man lernt die

Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen. Statt dessen in dieser patriarchalischen Gesellschaft, geerbt die

Jugend unter den veralteten Werten in Konflikt. Besonders die Mädchen werden zu selbstun

sicheren Menschen, die immer Zweifel Gefühle haben. Onkel Ali entschied sich aus diesen Gründen,

die Tochter mit nach Deutschland zu bringen. Ohnehin wurde seine Sehnsucht nach seiner Frau und

Tochter im größer. Die Trennung fiel ihm immer schwerer. Sein einsames Leben verglich er mit

einem Baum, welcher aus der Erde herausgerissen wurde.   Einige Tage vor der Rückreise, sagte er

seiner Frau, sie solle alle Vorbereitungen treffen, dass auch sie nach Deutschland kommen solle. Sie

freute sich darüber, dass sie nun zusammen sein würden. Senay war nicht gewillt, wegzugehen. Sie

wollte in der Heimat studieren, die Gesellschaft und auch die wirtschaftlichen Zusammenhänge am

Platz analysieren. Sie konnte sich aber nicht gegen den Vater stellen und ging mit. Am ersten Tag

ihrer Einreise in die Bundesrepublik, schrieb sie sofort ihrem Freund. Wenn sie Post von ihm bekam, wurde ihr Leben schöner, aus Freude lebte sie riecht auf. Sie mochte keine Geheimnisse. Irgendwelche Ereignisse

oder Gedanken vor ihren Eltern zu verheimlichen, kam ihr wie Diebstahl vor.

„Da ich keine Diebin bin, habe ich auch nichts zu verbergen,“  sagte sie. Mit ihrer offenen und

seriösen Haltung, gewann sie viel Vertrauen. Nuri sprach sie in seinen Briefen immer mit „Schwester“

  1. Manchmal beschäftigte sie dieses Wort stundenlang. Als ob sie eine andere Anrede erwartete.

Nuri erzählte immer von der Schule, von der Umgebung und vom Land  in einer sehr ästhetischen

Sprache. Auch Senay`s Vater lies gern seine Briefe. Er erwartete diese sehnsüchtig und las sie

immer mehrmals. Onkel Ali schickte Senay erst in eine Sprachschule. Er bemühte sich sehr, sie in

ein Gymnasium einzuschreiben, aber seine Bemühungen blieben erfolglos. Ausländer, die im eigenen

Land das Gymnasium nicht abgeschlossen haben, konnten nur indie sogenannte „Hauptschule“

gehen. Es war ohnehin so, dass ausländische Jugendliche in diese Schule gezwungen wurden. Denn

dieses Land hatte ausgebildete Kräfte zu genüge. Für die dreckige und schwere Arbeit, die keine

Ausbildung bedurfte, wurde eine Arbeitsschicht vorbereitet; eben die Kinder der Gastarbeiter.

Aber auch wenn es schwierig war; es gab eine Möglichkeit, auch mit dem Hauptschulabschluß

weiterzukommen. Er vertraute seiner Tochter. Nur hoffte er  damals, als er seine Familie mitnahm,

dass sie es einfacher haben würde. Senay wurde in die Hauptschule eingeschrieben. Sie wurde

dort schnell akzeptiert und gemocht. Aber sie und die Eltern waren traurig darüber, dass sie nach

dieser Schule nicht sofort in die Universität gehen konnte, und dass die Gleichaltrigen in der Türkei

schon die Universität besuchen konnten. Einen Moment lang überlegte er sich, ob er Senay nicht

wieder zurück in die Heimat schicken sollte, damit sie dort das Abitur macht. Aber sie war jetzt eine

18 jährliche schöne junge Dame geworden. Außerdem wurde damals wegen ihrer Freundschaft

zu Nuri geredet. Das hielt ihn davon ab, sie wegzuschicken. Eines morgens kam Senay voller Freude

nach Hause.

„Ich werde mich in die Touristik- und Hotelfachschule einschreiben können!“

Ja, dachte Onkel Ali, das ist eine gute Möglichkeit. Diese Branche versprach viel von sich in der

Mittelmeerländer. Es kamen viele Turisten aus Europa und aus den arabischen Ländern. Ein Beruf

im Tourismusbereich könnte eine gesicherte Zukunft bedeuten. Senay hatte die Schule von Anfang

an ernst genommen. Sie war erfolgreich, hatte die deutsche und zusätzlich die englische Sprache

gelernt. EDV ließ sie nicht aus. Jede freie Minute widmete sie dem Computer. Ihr Vater beobachtete

gern ihre Aktivitäten. Dabei vergaß er sogar seine Erschöpftheit von der Fabrikarbeit. Er hatte auch

immer Angst in sich, die er verbarg. Seit ihre hübsche Tochter in Deutschland war, fiel sie den

Männern auf. Sie wurde immer von ihnen belästigt besonders der Wirt  Erich lies sie nicht in Ruhe.

Schon bei dem ersten Blick verliebte er sich in sie, dabei war sie damals erst 15 und er selbst 28.

Er schnitt ihr ständig den Weg, lud sie zum Essen ein und machte ihr Freundschaftsanträge.

Senay dachte nicht daran, irgendeine Beziehung einzugehen. Die Männer, die sie kennenlernte,

konnten nicht den Platz von Nuri einnehmen. Außerdem wollte sie das erreichen, was sie sich in

den Kopf gesetzt hatte. Und sie wollte für Nuri eine Möglichkeit verschaffen, Medizin zu studieren.

Die Anträge nd Versprechungen vom Wirt Erich lehnte sie immer ab. Sie fand ihn ekelhaft.

Nach 3 Jahren Touristik- und Hotelfachschule, eröffnete sie ein Restaurant, in der Anatolische

Hausgerichte angeboten wurde. Sie sagte ihrem Vater, dass sie um aus diesem Geschäft verdienen

zu können, Nuri beschäftigen wolle. Um ihn abholen zu können, war der beste Weg, vom Familienzusammenführungsgesetz Gebrauch zu machen, also mit Nuri zu heiraten. Der Vater willigte

sofort ein. Als die Familie zum Urlaub in die Heimat ging, machte sie eine sehr schöne Hochzeit.

Somit  konnte der  Vater die Zufriedenheit, die letzte Aufgabe eines Vaters erfüllt zu haben, genießen.

Über die Heirat mit Nuri waren Vater und Mutter sehr glücklich. Aber Nuri hatte nicht im Traum

an eine Heirat gedacht. Er betrachtete Senay als einen Teil von sich, weil sie zusammen aufgewachsen

waren, weil sie sich gut verstanden und weil sie die einzige war, die ihn verstand. Der Heiratsantrag

von Senay verblüffte ihn. Er konnte weder „ja“ noch „nein“ sagen. Er antwortete nur mit:

„Wie du willst“.Das Restaurant von Senay und Nuri wurde im Ort, sogar in der ganzen Stadt

bekannt. Sie hatten einen guten Ruf. Nuri lernte auch schnell die deutsche Sprache. Nuri`s hübsche

Frau ging dann eines Tages heimlich zur Universität und schrieb ihn für das Fach Medizin ein. Als er

durch Unterlagen, die per Post kamen, erfuhr, dass er Medizin studieren könne, flog er vor lauter

Freude in die Luft; umarmte  seine Frau und Onkel Ali. Die Arbeit im Restaurant und auch Nuri`s

Studium liefen gut. In der gleichen Straße wurden noch andere, portugiesische und griechische

Imbiß-Hallen eröffnet, die auch von den entsprechenden Gastarbeitern betrieben wurden.

Gleichzeitig verschlechterte sich das Geschäft vom Wirt Erich. Er trank auch immer mehr und

wurde schließlich zum Alkoholiker. Im betrunkenen Zustand, belästigte er wegen Kleinigkeiten

seine Kundschaft. Er glaubte, dass die Ausländer Schuld an seinem schlechten Geschäft hätten. Er

beschimpfte sie ständig und entwickelte sich immer mehr zum Ausländerfeind. Er wollte auch diese Ausländerfeindlichkeit verbreiten, um negativen Einfluß auf die kleinen Länder der Ausländer

ausüben zu können. Deshalb gab er Jugendlichen Bier oder Gerichte aus, und erzählte Witze über

Minderheiten. Besonders wenn er Senay und Nuri zusammen sah, flippte er aus. Er trank an seiner

Flasche Weinbrand oder Asbach und murmelte, dass er die beiden  nicht  lebendig sehn wolle.

Eines nachts schlossen Senay und Nuri das Restaurant und machten sich auf dem Weg nach Hause.

Sie ahnten nichts davon, dass ihnen eine Falle vorbereitet war. Sie erwarteten von niemanden

etwas Böses. Sie hatten nämlich keinem Menschen, keinem lebenden Wesen etwas zu leide getan.

Soweit ihnen möglich war, haben sie geholfen. Als sie liefen, hörten sie plötzlich einen Waffenschuß.

Die hintereinander gefeuerten Schüsse hörten auch die anliegenden Bewohner und sie eilten auf

die Straße. Sie begegneten einem blutenden Körper. Senay`s Vater wurde auch wach. Die Schüsse

hielt er erst für Auspuffgeräusche eines Autos. Dann klingelte es Sturm an seiner Tür. Tiefe Angst

füllte sein Herz. Er rannte zur Tür, öffnete… Seine Tochter lag regungslos auf der Erde. Er umarmte

sie. Sie ließ sich in seine Arme fallen. Sie hatte keine Kraft mehr. Onkel Ali trug Senay in die

Wohnung. Während die Mutter noch ahnungslos schlief, weinte der Vater schluchzend und hielt

immer noch die Tochter beschützend in den Armen. Schwer öffnete Senay die Augen. Mit

zitternden Lippen stieß sie ein Wort „Erich!“.

Der  Vater sprang daraufhin auf, eilte zum Telefon, um die Polizei zu benachrichtigen. Doch er

schaffte es nicht. Dann fiel ihm plötzlich Nuri ein. „Nuri! Wo ist Nuri?“ Er rannte zur Tür und schrie:

„Nuri!“

Inzwischen war die Straße voller Menschen.

Nuri hatte sich in eine nächstgelegene Wohnung geschleppt, um ein Krankenhaus anzurufen. In der

Wohnung des deutschen Nachbarn hörte er seinen Schwiegervater. Er wollte zurückrufen, aber

die Schußwunde raubte ihm die letzte Kraft. Wie zwei Diamantensteine rollten ihm Tränen über

das Gesicht. Der Krankenwagen und die Polizei näherten sich mit Sirenen und Hupen. Als ob

sie damit zeigen wollten, dass sie an der Verwunderung und am Schmerz der dort versammelten

Deutschen und Migranten teilhaben. Die zwei Schwerverletzten wurden nebeneinander auf

Krankenbaren gelegt. Nuri reichte Senay seine Hand. Sie sagte:

„Nuri, ich liebe dich sehr. Das weißt du, weißt Du ich liebe…“Von all dem Chaos wurde auch

Frau Heitmann, die auf der gleichen Straße wohnte, geweckt. Sie schaute aus dem Fenster.

Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie sah die Menschenmasse, die Polizei und den

Krankenwagen. Dann schaute sie zu  ihrer Enkelin Maria, die ihr noch von ihrem in der Hitlerzeit

ermordeten Sohn übrig geblieben war. Sie schlief immer noch, trotz des Lärms. Damals, als ihr

Sohn vor der Haustür von den SS-Männern erschossen wurde, war sie erst 18 Monate.

„Damals schlief sie auch so ahnungslos, wie heute,“ dachte sie. Und damals war es auch eine

Nacht, in der sich die hellen Sterne im dunkelblauen Himmel verteilt zeigten. Dann schaute sie zu

den vom Wind bewegten  Ästen der Bäume. Dann richtete sie ihren Blick auf die verwundeten

Menschen. Zu ihrer Enkelin gewandt, fragte sie sich tief betrübt:

„warum vernichten sich diese Menschen gegenseitig? Warum können sie nicht leben, wie diese

Sterne am Himmel, brüderlich nebeneinander und füreinander? Warum lernt der Mensch nicht aus

der Geschichte und von vergangenen Ereignissen? Wird diese Gesellschaft das Blutvergießen in

der Geschichte wiederholen?…“

Ihre Tränen verschwanden in der Dunkelheit der Nacht. Jeder, der über diese Nacht erfuhr,

empfand Trauer. Aber aufgrund des Fremdseins, bleiben die Beziehungen, Auseinandersetzungen

und Lestereien der anderen Seite unverständlich. Darüber hinaus der Druck, der über legalem

Weg immer größer wird; Verhaltensweisen in Ämtern, die sich der Menschenwürde nicht schicken … Ereignisse, die hier stattfinden, weil man Ausländer ist, machen die denkenden Menschen, deutsche und auch

Ausländer, sehr traurig. Eben diese Ereignisse, verbreiten sich nicht nur in den Stadtteilen, leider

auch in den Städten und im ganzen Land. Das ist eben das traurigste…